Pressestimmen & Rezensionen
«Ein Koffer voller Wünsche»
Einführungsrede, gehalten von Samuel Moser am 2. Dezember 2012 in der Alten Schmiede in Wien.
"Wer einen Autor auf ein Thema reduziert, versündigt sich an der Literatur. Aber es gibt doch Stoffe und innere Triebfedern des Schreibens. Bei Martin Dean sind das sicher Fragen der familiären Herkunft und der kulturellen Identität. In seinem neuen Roman «Ein Koffer voller Wünsche» ist dieser Stoff schon im Titel geformt zu einem symbolhaften Bild paradoxer Ambivalenz von Zusammenhalten und Auseinandergehen, Fülle und Leere, Beharrlichkeit und Mobilität. Wie schwer wird er wiegen, dieser Koffer? Oder wird man seinen Transport ablehnen? Noch habe ich das Symbol für «Wünsche» an keinem Checkin bei den «prohibited objects» gesehen. Noch nicht.
Deans Kofferträger kommt aus «Hinterindien». Hinterindien ist nirgends und überall. Deshalb mussten schon die Lehrer ihm erklären, woher er komme: du kommst doch aus Hinterindien. Hinterindien liegt hinter Indien und Indien ist weit weg. Aber weit weg ist man schnell einmal. Im Roman ist von einem Mann die Rede, der aus Basel kam und sich in Aarau entwurzelt fühlte. Mit dem Velo sind das achtundfünfzig Kilometer.
Martin Dean kommt aus Menziken. Menziken ist eine kleine Gemeinde neben Aarau. Zumindest ist er da geboren als Sohn einer Schweizerin und eines Vaters aus Trinidad. Auch sein Stiefvater stammt aus Trinidad. Das kann man in jedem Klappentext lesen. Über seine Herkunft allerdings ist damit noch gar nichts gesagt. Um über diese zu reden, genügt kein Heimatschein. Dazu braucht es die Literatur.
Dean ist ein homme de lettre. Er schreibt Erzählungen, Romane, Essays und journalistische Texte. Dazu ist er Deutschlehrer an einem Gymnasium. Das Thema Migration hat er jüngst in einem Lehrmittel aufgearbeitet. Wichtig ist auch seine Arbeit als Dozent für literarisches Schreiben, u.a. am Schweizer Literaturinsitut in Biel.
Die Liste seiner Publikationen ist bereits lang. Man wird sich erinneren an den Erstling «Die verborgenen Gärten», 1982. Sein letzter Roman mit dem Titel «Meine Väter» erschien vor acht Jahren.
Im «Koffer»-Roman bringt ein Mann, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht richtig älter, also doch eher noch jung in vielen Dingen, gleich im ersten Satz sein Problem auf den Punkt, um es ein bisschen flapsig zu sagen: «Als ich sie das erste Mal einen Apfel schälen und sechs gleich grosse Stücke schneiden sah, damals, im Kahn mitten auf dem See, da ahnte ich, dass sie die eleganteste, stilsicherste und leisesete Frau war, die mir je begegnen würde». Der Mann heisst Filip Shiva Bellinger, die Frau Maia Gut Diesbach. Nomina sunt omina. Filips Problem also: die perfekte Frau. Eine Eva, die mit Apfelschälen verführt. Das Ende auch dieser Geschichte ist nicht einfach, aber bekannt.
Natürlich ist der Akt symbolhaft: ein geschälter Apfel ist ein blosser Apfel, der wird mit keiner roten Haut mehr verführen. Er ist so blutt wie Eva und Adam im Paradies. Was also, wenn die Vertreibung aus dem Paradies das Paradies ist oder zumindest sein soll? Genau dies hat unsere Gesellschaft institutionalisiert. Die Institution trägt den Namen «Ehe».
Filip Shiva Bellinger steht unmittelbar vor der Bekanntgabe seiner Verlobung und Hochzeit mit Maia Gut Diesbach. «So what», darf man füglich auf Englisch fragen, befindet sich Filip im Moment, in dem er zu erzählen beginnt, doch in London. Frühjahr 1999, die Jahrtausendwende steht bevor, eine «hohe» Zeit auch das.
In London will Filip «zu sich kommen», wie man so sagt, denn reif für die Ehe fühlt er sich nicht. Er ist ein Taugenichts. Maia, perfekt wie sie ist, gönnt ihm die Bedenkzeit. Grossartig. Der Davonläufer soll noch ein bisschen davonlaufen, das wird ihn gegen das Davonlaufen immunisieren. Nicht reif ist Filip vorallem für die Sesshaftigkeit und die daraus resultierende Familiengründung – oder ist die Reihenfolge kulturhistorisch umgekehrt? Er ist im Unterschied zu Maia kein «Schäler», sondern eher an Verpackungen interessiert. Filip leidet unter dem, was die anderen «Filipisieren» nennen. Das erinnert an Filibustern, an Philippika, an lange Reden, an grosse Reiche, weite Fernen. Filip will eben, man merkt es schon im Duktus seines ersten Satzes, nie fertig sein. Er kann auch nicht, es fehlt ihm immer etwas. In Hinterindien war er der Filip «Ichweissnichtwoher». Auch Worte fehlen ihm. Zum Beispiel das schweizerdeutsche «Bätzgi» für das, was in ordentlichem Deutsch «Apfelkerngehäuse» heisst. Welch ein monströser Begriff! Ursprung und Gefängnis in einem. Auch Maia braucht ihn nicht. Sie braucht überhaupt keine Worte. Sie schält, das sagt alles. Schält bis aufs Kerngehäuse. Maia ist Schweizerin.
Die Gut Diesbachs kommen nicht von Hinterindien, sondern vom vorderen Vierwaldstättersee. Maias Vater ist ein konservativer Mann. Dass er dem Wein und der Romandie zuneigt, heisst nicht, dass er einen Koffer voller Wünsche hätte. Er ist Weinhändler, vermögend. Filip Shiva Bellinger dagegen kommt aus einfachen Verhältnissen. Doch nicht schweizerischen, und vorallem nicht schweizerisch einfachen. Seine Mutter ist eine Aristokratin; aber eben nur was die Lebensführung betrifft. Sie versteht sich bestens mit den Gut Diesbachs. Filips Vater hingegen, ein indischer Guru, der Shiva gezeugt haben muss, fehlt. Verschwunden in London.
In London soll Filip sein Verschwinden aufklären. Will er es auch? Das Verschwinden beschäftigt ihn: da ist eben ein Toter gefunden worden, der vom Himmel gestürzt sein muss. Wahrscheinlich aus dem Radkasten eines Flugzeuges, ein gefallener Engel ohne Identität. Ein Emigrant. Seine Spur verfolgt Filip zunächst in den Spitälern Londons, nicht die des Vaters. Und in irgendeinem scheinen sich die Identitäten der beiden dann zu verwischen.
Filip fühlt sich in London nicht unwohl; das anacharchisch Chaotische der vielen Kulturen, das etwas Heruntergekommene gefällt ihm. Nicht aus einem Humandusel heraus, sondern im Kontrast zur perfekten Schweiz – zum «Kerngehäuse», das auf ihn wartet. Er lebt in einer schäbigen Wohnung, die er Maia kaum zu zeigen wagt, wenn sie ihn besucht. Zumeist geht Filip in einem Reisebüro mit dem etwas schiefen Namen Helvis Tourism seiner Arbeit nach. Hier verkauft er Reisen in das Land, in dem Hinterindien hinter Aarau liegt. Traumreisen für junge Hochzeitspaare, deren offene Wunschkoffer er füllt. Das gefällt dem Filippisierer. Nur, so sagt man ihm, solle er nicht die Realität verkaufen, sondern den Traum «Schweiz». Den Titlis, nicht Aarau. Filips Traum aber ist Aarau.
Maia wandert gern, geht gern «z’Bärg». Filip weniger. Er liebt das Flache. Auf dem Rücksitz seiner wild herumkurvenden, mondänen Mutter hat er die Schweiz zur Genüge kennengelernt. Schöne Ecken durchaus, aber zu einem Gefühl von Heimat führten sie nie. Auch die durchaus mit nicht unschweizerischen Geschichten durchzogene und durchtriebene Schulzeit, an die er sich in London erinnert, führte nicht zu dem, was die Schule hätte wollen sollen: zur Integration. Vieles wuchs da in ihm, aber nichts, was standhalten konnte.
Ausgerechnet auf dem Titlis kommt es für Filip und Maia zur Katastrophe der besonderen Art: eine, die einen positiven Ausgang hat, ohne deshalb aufzuhören, eine Katastrophe zu sein. Sie erfolgt im Anschluss an die Familienzusammenkunft in der Villa der Gut Diesbachs, an der in klassischem Stil fast alles schief und die Heiratsverkündung von Maia und Filip beinahe untergeht. Auf dem anschliessenden Titlis-Ausflug erfährt Filip, dass Maia schwanger ist – es ist also so weit. Er ist angekommen. Aber wo? Da, wo er nicht hinwollte. Immerhin hat er noch einmal Glück. Oder Schwein. Aber das verrate ich jetzt ebenso wenig wie die allerletzte Einstellung des Romans.
Eine Inhaltswiedergabe des Romans sitzt leicht seiner glatten Oberfläche auf. Er ist ja wohl gebaut, gut proportioniert. Einen Bildungsroman beinahe archaischen Zuschnitts: du kriegst die schöne Königstochter, nur musst du rasch noch diese Heldentat vollbringen, die du hoffentlich nicht überleben wirst etc.
Martin Deans Roman ist aber auch die Subversion solcher Mythen. Man muss den Handschuh umstülpen und seine Innenseite betrachten, wo die Fäden, Stiche und Verknüpfungen sichtbar werden, die ihn zusammenhalten. Dann nämlich zeigt sich das Gegenläufige: dass es Filip und seinem Autor um das Vielgestaltige, Abweichende, Differente geht.
Einem Blick ins Innere des Romans zeigt sich schnell, wie er das Prinzip der ironischen Spiegelung iteriert. Es gibt alles doppelt: zwei Schauplätze, zwei Familien, zwei Protagonisten, zwei Koffer, den leeren des Vaters und den mit Wünschen gefüllten des Sohnes. Und auch Szenen wiederholen sich, wie etwa die Liebespiele aus der Schulzeit mit Madelon und die mit Maia in einem Ziegenstall. Eine weitere Doppelung bilden die Klischees, die Filip bei Helvis Tourism als Realität verkauft. Und das vielleicht intimste Paar bilden im Kern des Romans die zwei namenlosen Toten, der aus dem Radkasten des Flugzeugs und der in einen Rosenbaum vrewandelte auf einem Londoner Friedhof. Dann gäbe es noch eine aus einem Kinderwagen herausgefallene Puppe; aber darzustellen, wie raffiniert diese Episode ins Ganze verflochten ist, würde zu weit führen.
Das Prinzip der ironischen Spiegelung ist ein klassisches Stilmittel des realistischen Erzählens Aber mit dem blossen Stilmittel ist es nicht getan. Ich denke, dass das Mittel der Ironie in Deans Roman das retten will, was auch der Protagonist in paradoxer Weise für seine Identität braucht: das Nichtidentische. Filip ist durchaus nicht einer, der endlich dazugehören möchte, der eine klare Antwort auf die Frage «wohör chonsch denn du» geben können möchte. Es wäre überhaupt ein Missverständnis, in Filip einen Flüchtling zu sehen. Er ist durchaus da, wo er hin will. Natürlich geht er nach London, um seine innere Fremdheit, wie er sagt, in der äusseren loszuwerden. Aber dazu braucht er die äussere. Filip, und vielleicht ist das der Skandal, ist einfach ein Schweizer ohne Heimweh. Ein Un-Schweizer. Vielleicht hat er nur einen Wunsch: keinen zu haben. Einen leeren Koffer.
«Mir ist, als ziehe mir Ben das Gesicht weg», sagt Filip, wenn der Mann auf dem Friedhof, der angeblich die Leiche seines Vaters gewaschen und bestattet hat, ihm aufgrund der Ähnlichkeit die eindeutige Sohnschaft bestätigt. Das Gefühl jemandem zu gleichen und quasi doppelt zu existieren, erfüllt Filip mit einem Schrecken biblischen Ausmasses. Nie gewesen zu sein, ist für ihn eine furchtbare, aber auch attraktive Vorstellung. Der Sohn eines Toten zu sein ein zugleich schmerzhaftes und «beglückendes» Gefühl. Taugt so einer zum Sohn, taugt so einer selber zum Vater?
Fremdsein nicht loswerden müssen, sondern erhalten können, das wäre das Ziel. Das hiesse im Fremdsein selber heimisch zu werden. Vielleicht gelingt das in der Ironie einer Erzählung. In ihrem doppelten Boden, der den «Koffer voller Wünsche» als Utensil der «contrebande» ausweist."
Martin R. Dean erzählt seine geistreiche Geschichte mit grossem, virtuosem, manchmal aussergewöhnlich aber immer stimmig eingesetztem Wortschatz. Und - very important: «Ein Koffer voller Wünsche» ist mit seiner Situationskomik immer wieder absolut amüsant.
Der Schweizer Schriftsteller Martin R. Dean macht mit der aufwühlenden, wohldurchdachten und köstlich komisch erzählten Geschichte eines Orientierungslosen restlos glücklich.
(Tania Kummer, DRS3)
Um einer Figur willen indessen nimmt man gerne in Kauf, dass Martin Dean seinen Stoff zum Roman erweitert: Es gibt ihm Gelegenheit – sowohl in Rückblenden wie auf der Gegenwartsebene –, Filips Mutter auftreten zu lassen. Das einstige Arbeiterkind ist gewiss die einzige ganz in sich ruhende, Gelassenheit und Besonnenheit ausstrahlende Person. In beiläufiger Genauigkeit zeichnet Dean die Figur – und lässt umso wirkungsvoller ein anrührendes Porträt hervortreten. Die Mutter vergegenwärtigt eine Authentizität und eine geistige Unabhängigkeit, die allen anderen vollkommen abgehen. Es reicht, dass Dean sie in Gesellschaft eine Zigarette anstecken lässt, und schon steht das Bild einer sanft rebellischen Frau vor dem Leser, die sich von niemandem etwas vormachen lässt
(Roman Bucheli, NZZ)
Martin R. Dean öffnet mancher Leserin und manchem Leser seiner Bücher und Kolumnen die Augen. Der Blick des Schriftstellers auf die Schweiz und ihre Bewohner ist kritisch und zugleich hoffnungsvoll-optimistisch. Dean wünscht sich für sein Land weniger Swissness und keine Flucht in die Gotthelf-Welt.
(Kurt Aeschbacher, Aeschbacher)
Für eine freie Sicht auf unser globales Dorf im 21. Jahrhundert.
(Anna Wegelin, WoZ)
Martin R. Dean hat hier einige autobiografische Motive in seinen leichthändigen, streckenweise sehr komischen Roman einer schwierigen Heimatfindung eingeschleust. Sein Alter Ego Filip repräsentiert den Wunsch des literarischen Kosmopoliten nach einer sympathetischen Beziehung zur Schweiz jenseits ihrer touristischen Zurüstung.
(Michael Braun, BAZ)
Martin R. Dean fragt in seinem Roman nach einer Schweizer Identität jenseits der helvetischen Klischees. Filip hat die vierzig überschritten und muss sich entscheiden, ob er sein «Leben auf Abruf» weiterleben will. Oder ob er versucht, «erwachsen» zu werden und «einen persönlichen Abdruck» zu hinterlassen, wie sein Jugendfreund Fred sagt. «Ein Koffer voller Wünsche» beschreibt diesen Zwiespalt glaubhaft präzise und mit feinen Antennen.
(Beat Mazenauer, Tages-Anzeiger Zürich Online)
Die Personen, Ereignisse und Vorkommnisse in diesem Buch haben ausnahmslos alle mehrere Böden, Tiefen und Höhen. Manchmal klingt das Buch sogar, akustisch. Mal hat man Sympathien mit der einen Figur, dann mit der anderen, am Ende mit allen, den Lebenden wie den Toten.
Mich hat das Buch bewegt und tut es jetzt, wo ich es beiseite gelegt habe, immer noch. Und Martin R. Dean hat mich beeindruckt.
(Waseem Hussein, Amazon Rezension)